︎︎︎ DEAR PAUL     (COMING SOON)


Dear Paul,
The other day on the shores of the lake, the twilight lay like a cat curled up in the calm air over the poplars, I met a boy skipping stones, playing ducks and drakes, skimming, skiffing or whatever this deeply human activity is called, already described long ago by Seneca as a child's game in ancient Greece – you know: find small stones as flat as possible and throw them as flat as possible across the surface of the water, count one-two-three-four-five-six-seven or more hoppers and then follow the growing ripples on the water without blinking even once. 88 rebounders, the boy boasted, was the world record set recently by his paternal uncle, a certain Kurt "Mountain-Man" Steiner, with a stone from his collection of over 10,000. In his mind’s eye, the boy continued, the sight of the amazing throw is hazy, like an apparition of 88 rings on a single chain, which in the finest spiritualization, pneumatization so to speak, shows the symbolized power of love. A falcon stroked past, the boy fell silent. In the snow at our feet three drops of blood formed a lovely face – it seemed as if the boy was sleeping. I carefully thanked him by nodding my head twice, and retreated to the local art gallery in view of the monstrous dirty clouds that were rising over the ridge of the mountains. The exhibition of work by a photographer I had never heard of was very refined, and there was a quiet, barely perceptible ringing. I heard it, but I saw it, too. The eye, dear Paul, is a stone-skipping child or a gun-toting rebel. In order to harvest the ricochets of light, this artist made himself a net and stole a skin on which the thing-world writes things like ladder, window, rock, cave, tree. A haystack also crops up, but rarely. Knowing tends to know, the exhibition flyer said, and the known tends to be known. However, both are prevented from meeting in order to preclude a circular conclusion. Well, sometimes – to paraphrase Nietzsche – not only barons and images, but also words, pull themselves up out of the swamp of nothingness by their own bootstraps. “When the light of day surrounds the stream of vision,” Plato writes, “ then like falls upon like, and they coalesce, and one body is formed by natural affinity in the line of vision, wherever the light that falls from within meets with an external object. And the whole stream of vision, being similarly affected in virtue of similarity, diffuses the motions of what it touches or what touches it over the whole body, until they reach the soul, causing that perception which we call sight.” It is therefore not a matter of how things appear to us, but when – and if – we pay them the attention they need in order to exist as appearance.

Yours, Trmasan




Lieber Paul,
vier Uhr morgens, irgendwo rechts oben von Wichita, an Schlaf ist nicht zu denken. Der Parkplatz vor dem Motel lagert dunkelblaue Schwärze, auf der Veranda wirft die Eismaschine ab und an den Kompressor an, um gleich wieder zu verrecken, während drüben bei den Getreidesilos ein kalter Wind die Klagen der Lufthörner vorbeirollender Güterzüge abschöpft; sie tragen Namen wie Prime Horn, Nathan K5LA oder Leslie RS5T und werden über Internet in Kits angeboten, mit Luftpumpe und allem, was es so braucht - Sehnsucht pur. Wäre ich Künstler, ich würde mir eine Installation ausdenken mit Airchimes, dazu viel Blau, der Farbe des Horizonts, der Farbe der Einsamkeit, des Verlangens, der Sehnsucht, oder mit den Worten von Rebecca Solnit: «the color of there seen from here, the color of where you are not». Blues. Im Badezimmer meines Elternhauses gab es ein Fenster, das sich gegen eine blaue Bergkette am Horizont hin öffnete. Als Kind sass ich oft auf der Toilettenschüssel und kniff ein Auge zusammen, um mit dem anderen einen besonders auffälligen Fliegendreck auf der schmutzigen Fensterscheibe mit dem Bergrücken in Übereinstimmung zu bringen. Neigte ich den Kopf nach links und rechts, nach oben oder unten, schrieb der Fliegendreck die Horizontlinie nach. Ein kleiner Wechsel der Haltung, der Perspektive - auch wenn eigentlich der Langeweile geschuldet - lässt Sehnsucht und Verlangen zum Eigentlichen werden, nicht deren Erfüllung. Das ging mir durch den Sinn, als ich gestern die Bekanntschaft mit einem alten Rancher machte, der mich an jemanden erinnerte, aber ich konnte nicht festmachen, an wen. Er erzählte mir, wie er es sich als junger Mann zur Aufgabe gemacht, und - wie er glaubhaft versicherte - es darin auch zur höchsten Meisterschaft gebracht habe, Stacheldrahtzäune schnurgerade durch die Great Plains zu ziehen. Zu diesem Zweck, sagte der Mann, habe er sich einer selbst gebauten Einrichtung, seiner Erfindung, bedient, die er mir auf mein ungläubiges Staunen hin umständlich und mit Hilfe von Skizzen erklärte: An einer senkrecht in den Boden gerammten Stange, die für gewöhnlich den Anfangspunkt eines Zaunes markiert, wird mittels Gurten ein bewegliches Gestänge aus Metall, einem Pantografen nicht unähnlich, angebracht; an dessen Ende festgeschraubt ein Fernrohr, das dank der parallelkinematischen Struktur des Gestänges auf einer Ebene beliebig gegen links oder rechts der Stange verschoben werden kann, ohne seine präzise Ausrichtung einzubüssen. Durch das Rohr blickend, erklärte der Mann, sei er nun in der Lage gewesen, die Linie der sich in der Prärie verlierenden Pfostenreihe kontrollieren zu können; wobei er über ein Telefon, das den Stacheldraht als Standleitung nutzte (es gab damals noch keine Handys sic.), seinen am Zaun beschäftigten Arbeitern habe laufend Anweisungen geben können, bis sie schliesslich den Horizont erreicht hätten. Erst dann habe er, sagte der Mann, seine Einrichtung ab- und erst am neuen Horizont wieder aufgebaut. Ich glaubte ihm kein Wort. Nachdem wir uns verabschiedet haben, fiel mir endlich ein, an wen mich der Mann erinnert hatte: an die Vogelscheuche aus dem Zauberer von Oz.

Dein Trmasan

P.S. Habe ich Dir eigentlich schon geschrieben, dass traurige Menschen Blautöne schlechter unterscheiden können als fröhliche?